Diese neue Rollenverteilung zeigt sich zum Beispiel an der Positionierung Chinas, Indiens und anderen gegenüber dem Russischen Krieg in der Ukraine. Wie stabil kann eine neue, multipolare Weltordnung sein? Und wie soll sich Deutschland positionieren? – Besinnung auf eigene Geschichte und Kultur.
Unser Jahrzehnt ist geprägt von wirtschaftlichen und geostrategischen Machtverschiebungen. Mit China und Indien entstehen neue Machtzentren. Aus dem Dualismus zwischen West und Ost ist eine deutlich komplexere, multipolare Weltordnung geworden. Wird dieser Übergang friedlich verlaufen oder müssen wir mit Kriegen und Handelskriegen rechnen? Wie stabil wird diese neue Welt sein? Und könnte Deutschland in diesem Wandel der Konstellationen sogar eine Vorbildrolle übernehmen, wie es Richard Prechts Gast, der indische Schriftsteller und Essayist Pankaj Mishra vorschlägt.
Sei es die Klimakrise, Corona oder die Maßnahmen gegen den Ukraine-Krieg – der globale Süden verweigert Europa und den USA immer häufiger die Zustimmung. Während wir uns hier im vorwiegend demokratischen Westen immer noch für den Nabel der Welt halten, entfalten vor allem die Staaten Asiens ein neues Selbstbewusstsein. Westliche Werte wie Demokratie, Freiheit oder Nachhaltigkeit gehören dabei nicht zwangsläufig zu den Prioritäten. Nach Jahrhunderten europäischer Wertedominanz möchte man heute vor allem wirtschaftlich vorankommen und sich auf die eigene Geschichte und Kultur besinnen.
Deutschland als möglicher Vermittler
Diese Veränderungen, so Mishra, seien aber im Bewusstsein des Westens noch nicht angekommen. In Europa halte man immer noch schlafwandlerisch an der Gefolgschaft zu den USA fest, anstatt dem globalen Süden auf Augenhöhe zu begegnen. Laut Mishra sollte sich Deutschland dem dramatischen Niedergang westlicher Dominanz entgegenstellen und sich als Mittler positionieren. Durch die vorbildhafte Aufarbeitung des 3. Reiches und dem bürgerorientierten Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft sei Deutschland bestens geeignet, um als vertrauenswürdiger Vermittler aufzutreten.
Deutschland könnte aus seiner eigenen Erfahrung eine Tugend machen und sich selbst als unabhängige, souveräne Nation mit einer besonderen Geschichte sehen und darstellen. Deutschland könnte seine so besondere historische und wirtschaftliche Entwicklung eben nicht als etwas durch den Nationalsozialismus Geprägtes darstellen, sondern als Folge des so erfolgreichen Sozialstaats, durch einen Staat, der auf die Belange seiner Bürger eingeht und sie ernst nimmt.
Pankaj Mishra
Doch ist ein Alleingang Deutschlands wirklich ratsam? Das alte Europa wird nach Mishra lernen müssen, umzudenken. Mögen wir hierzulande noch so überzeugt sein von unseren moralischen Werten, die wir dank unseres Wohlstandes entwickeln konnten, so unterschätzen wir jedoch das wachsende Bedürfnis der restlichen Welt, sich nicht länger vom Westen bevormunden zu lassen.
Pankaj Mishra ist ein indischer Schriftsteller und Literaturkritiker. Er wurde 1969 in Jhansi im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh geboren und lebte lange in einer Kleinstadt am Himalaya.
Mishra erwarb einen Bachelor in Ökonomie und einen Master of Arts in Englischer Literatur. Neben Gastprofessuren in den USA und London begann Mishra Romane und Sachbücher zu schreiben. Sein Reisebericht Butter Chicken in Ludhiana (1995) setzt sich mit dem sozialen und kulturellen Wandel im globalisierten Indien auseinander.
In zahlreichen Essays und Kolumnen beschäftigt sich Mishra immer häufiger mit politischen Themen. In dem 2011 publizierten Sachbuch Aus den Ruinen des Empires versucht Mishra einen historischen Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen einem imperialistischen Westen und einem wiedererstarkenden Asien. 2014 erhielt er dafür den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.
2021 erschien in Deutschland seine Essayband Freundliche Fanatiker. Über das ideologische Nachleben des Imperialismus. In diesem Jahr erscheint sein neuer Roman Goldschakal beim S. Fischer Verlag.
Pankaj Mishra lebt in London und Indien.