Radikaler Ungehorsam – ohne Heldenpose, Revolutionsromantik und Märtyrertum
(Begleit-Kommentar aus Sicht von generalkritik.de)
1. Pädagogische Illusion
Die pädagogische Illusion: Macht lässt sich erziehen. Wer glaubt, Macht lasse sich belehren, verwechselt Politik mit Unterricht. Systeme hören nicht zu – sie reagieren nur auf Störung, Kosten und Risiko.
Martin Rutter sagt etwas Unbequemes, aber Richtiges: Wer glaubt, ein System mit genau den Regeln schlagen zu können, die dieses System selbst definiert, leidet an einer pädagogischen Illusion. Das ist eine Denkfalle. Pädagogische Illusion meint hier: Wenn wir nur genug erklären, argumentieren, aufklären und uns korrekt verhalten, wird das System irgendwann einsehen, dass wir recht haben.
Das ist die Vorstellung, Politik funktioniere wie ein Klassenzimmer. Dort gibt es Regeln, der „Lehrer“ (Staat, Medien, Behörden, Institutionen) erkennt gute Argumente an und belohnt Vernunft.
Das ist naiv. Systeme lernen nicht. Sie reagieren. Nicht auf Wahrheit, sondern auf Druck, Störung, Kosten, Risiko, Machtverlust. Wer glaubt, man könne Machtstrukturen durch gutes Benehmen, Fakten oder moralische Appelle „umerziehen“, verwechselt Demokratie-Rhetorik mit Machtpraxis. Genau das ist die pädagogische Illusion.
Kurz: Man redet mit einem Machtapparat, als wäre er ein Schüler – dabei ist er ein Betreiber.
2. Politische Physik
Politik folgt Kräften, nicht Argumenten. Ignorierbarer Protest wird ignoriert. Erst, wenn Routinen nicht mehr funktionieren, beginnt Bewegung. Politische Physik: Systeme reagieren nur auf Druck. Gemeint ist: Politik folgt Kraftverhältnissen, nicht Absichtserklärungen. Wie in der Physik gilt:
- Druck erzeugt Gegendruck
- Störungen erzeugen Reaktionen
- Systeme streben nach Selbsterhalt
- Energie fließt nicht dorthin, wo sie moralisch soll, sondern wo Widerstand gering ist
Ein politisches System fragt nicht: „Haben sie recht?“, sondern: „Was passiert, wenn wir sie ignorieren?“Wenn nichts passiert – wird ignoriert. Wenn Kosten entstehen – wird reagiert. So simpel.
Darum ist radikaler Ungehorsam kein Aufruf zur Gewalt, sondern eine Entzauberung: Wer ohne Störpotenzial agiert, wird pädagogisch betreut, medial eingehegt oder schlicht ausgesessen.
Zusammengefasst: Die pädagogische Illusion glaubt an Einsicht. Die politische Physik rechnet mit Kräften.
Und genau an dieser Stelle setzt Rutters Gedanke an: Radikaler Ungehorsam heißt nicht randalieren, sondern aus der Illusion auszusteigen, dass Macht sich durch Wohlverhalten beeindrucken lässt.
3. Konsequenz: Der radikale Ungehorsam
Nicht Gewalt, sondern geistiger Ausstieg aus dem Mitspielzwang. Wer die Regeln nicht mehr internalisiert, zwingt das System zur Reaktion – oder entzieht ihm die Bühne. Institutionen werden taub, sobald man höflich bleibt. Medien, Behörden, Staatsanwaltschaften und Regierungen sind keine neutralen Schiedsrichter, sondern Teil des Spiels. Wer das ignoriert, spielt Schach gegen jemanden, der die Figuren notfalls vom Brett wischt.
Radikaler Ungehorsam ist kein Straßenkampf, sondern geistige Vorarbeit. Ein mentales Durchspielen von Grenzsituationen, bevor man sie real erlebt. Genau das fehlte vielen Bewegungen der letzten Jahre: Strategie statt Empörung, Planung statt moralischem Daueralarm.
Um Missverständnissen vorzubeugen, die „Friday f. Future-Bewegung“ (FFF) oder die „Klimakleber“ z. B. sind kein passendes Beispiel für radikalen Ungehorsam. Sie sind eher institutionell geduldeter Regelbruch mit pädagogischem Anstrich, mehr Symbolik als Systemstörung, mehr Moral als Machtfrage. Dieser Aktionismus simuliert Radikalität, ohne die Machtachsen zu treffen. Viel Reibung, wenig Hebel.
Der Vergleich Martin Rutters mit Rudi Dutschke liegt nahe – nicht wegen der historischen Situation, sondern wegen der Denkbewegung. Auch Dutschke wollte keine blinde Revolte, sondern priorisierte Bewusstseinsarbeit. Erst denken, dann handeln. Erst verstehen, dann stören. Wer nur reagiert, hat schon verloren.
Der vielleicht schärfste Satz Rutters ist der letzte: Der Kampf wäre gewonnen, wenn man ihn nachträglich gar nicht mehr führen muss. Das ist kein Pathos, sondern das Gegenteil davon. Es geht nicht um den großen Knall, sondern um das präzise Verschieben von Koordinaten, bis das alte Spiel ins Leere läuft.
Radikaler Ungehorsam heißt hier nicht: alles anzünden. Sondern: nicht mehr mitspielen, wo Mitspielen gleich Selbstentmündigung bedeutet. Das ist unbequem, aber eine Notwendigkeit. Genau deshalb wird es so selten ernsthaft betrieben.